Irgedwerle

 

 

Es geschah vor vielen, vielen Jahren. Niemand erinnert sich mehr daran, zu welcher Zeit. Nur die alten, sehr alten Leute erinnerten sich noch an den Ort, an dem alles begann. Es war am Rande ihres kleinen Dorfes, dort wo der Wald die Wiesen begrenzte.

Zu jener Zeit lebte in diesem kleinen Dorf ein armer, aber rechtschaffener Junge. Niemand wusste, wer er war, woher er kam. Eines Tages war er einfach da. Darum nannten ihn die Leute „Irgedwerle“. Er war fleißig, hilfsbereit und gegen jedermann freundlich. Außer der Hütte, in der er lebte, und zwei fleißigen Händen hatte er nichts zu eigen.

Hinter der Hütte, die Irgedwerle bewohnte, begann der Wald. Eines Abends als er nach Hause zurückkehrte, sah er wie junge Burschen einen Fuchs in der Schlinge gefangen hatten. “Was wollt ihr mit dem Fuchs, Er ist noch ganz jung. Laßt ihn frei und in Frieden, “ rief Irgedwerle, dem das Tier leid tat.

„Warum sollten wir das tun“, lachten die Burschen. „Sein Fell reicht für eine warme und schöne Mütze.“ „Ich kann ihn euch nicht abkaufen, denn Geld habe ich nicht“; sprach Irgedwerle. „Aber ich kann arbeiten. Was muß ich tun, damit ihr mir den Fuchs gebt?“

Dem Sohn des reichsten Bauern und Schultheißen im Dorf war es schon immer ein Dorn im Auge, daß alle Mädchen im Dorf mit dem Irgedwerle so freundlich taten und mit ihm lachten und scherzten. Das kann der nur, dachte der Schultheißensohn, weil er nicht schwer arbeitet. Der soll mal etwas tun, dann wird ihm die Fröhlichkeit schon vergehen. Also rief er, bevor die anderen Burschen ihm zuvorkommen konnten: „Bei uns ist der Ochs krank, wenn du dich auf unserem Acker 3 Tage vor den Pflug spannst, sollst du den Fuchs haben.“

So geschah es. Drei Tage zog Irgedwerle den Pflug über den Acker des Schultheißen und dessen Sohn ging dahinter und trieb ihn unbarmherzig an. Dann am Abend des dritten Tages nahm Irgedwerle den Fuchs auf den Arm und trug ihn in den Wald hinter seiner Hütte. „Sei vorsichtig, kleiner Fuchs. Laß dich nicht wieder fangen.“ Der Fuchs schaute Irgedwerle lange und intensiv an, als wolle er ihn sich einprägen, wandte sich um und war schon im Unterholz verschwunden.

In der Nacht ging plötzlich die Tür zu Irgedwerles Hütte auf. Ein Fuchs schlich herein. Er kam bis zum Bett, richtete sich auf und sprach: “Du hast eines meiner Kinder gerettet. Zum Dank schenke ich dir diese Flöte.“ Noch ehe Irgedwerle irgend etwas sagen konnte, war der Fuchs verschwunden.

 

Am Morgen dachte der Junge, dass alles nur ein Traum gewesen sei. Doch da lag tatsächlich die Flöte neben seinem Bett. Noch nie hatte Irgedwerle eine Flöte besessen. Trotzdem legte er sie an die Lippen und er konnte spielen. Von nun an trug er die Flöte stets bei sich.

Immer wenn er sie spielte, schien es, als strahle die Sonne heller, dufteten die Blumen lieblicher, sangen die Vögel heiterer, selbst der griesgrämigste Mensch begann zu lächeln. Kranke Menschen spürten weniger Schmerzen, traurige fühlten sich seltsam getröstet.

Mit der Flöte hatte es noch eine besondere Bewandtnis: Manchmal wand sie sich in Irgedwerles Hand und wies ihn in eine bestimmte Richtung. So kam es, dass Irgedwerle verloren gegangene Gegenstände oder verlaufene Tiere wieder finden konnte. Als der Junge des Schultheißen von einer Schlange gebissen wurde, war es Irgedwerle, der mit Hilfe seiner Flöte das heilende Kraut fand, welches das Gift aus der Wunde zog.

Seitdem haßte ihn der Junge mehr als zuvor. Er konnte es mit seinem Stolz nicht vereinbaren, sich von einem Hergelaufenen, wie er ihn nannte, helfen lassen zu müssen.

 

Irgedwerle aber war von da an der Helfer des Dorfes. Er verlangte kein Geld. So gaben ihm die Menschen von ihren Vorräten: Schinken und Wurst nach dem Schlachttag, Brot, wenn gebacken wurde, Most, wenn die Äpfel reif waren. Manche Frau nähte ihm ein neues Hemd oder eine Jacke, strickte ihm Pullover für den Winter. Irgedwerle war zufrieden.

Die Menschen suchten nicht nur bei Verlust und Krankheiten seine Hilfe, auch in Liebesdingen suchten sie seinen Rat.

Doch er selber blieb allein.

Als er eines Abends einsam vor seiner Hütte saß, war plötzlich der Fuchs an seiner Seite.

„Du scheinst ein wenig traurig. Soll ich dir Gesellschaft leisten?“ fragte der Fuchs mit leiser Stimme. Trotzdem erschrak Irgedwerle. „Oh Fuchs, ja manchmal bin ich traurig. Aber jetzt lauf schnell in den Wald, bevor die Burschen aus dem Dorf dich entdecken. Sie könnten dich wieder einfangen, “ warnte er.

„Nein, “ antwortete der Fuchs“, „mich fängt niemand mehr. Ich bin in die Geheimnisse eingeweiht.“

„Welche Geheimnisse?“ fragte Irgedwerle.

„Später erzähle ich dir davon. Doch ab heute werde ich Dich jeden Abend besuchen. Wenn du willst.“

„Natürlich will ich“, antwortete Irgedwerle voll Freude.

Und so begann eine wunderbare Freundschaft.

 

Doch wie das oft im Leben ist. Es gibt Menschen, die vertragen Güte und Sanftmut nur eine geringe Weile. Sie können nicht verstehen, dass jemand nicht zornig wird, nicht herrschsüchtig ist, nicht nach Macht und Herrschaft strebt, dass jemand zufrieden sein kann mit einer kleinen Hütte und einer Flöte. Und diese Menschen, einige wenige im Dorf, darunter auch der Schultheißensohn, begannen böse über Irgedwerle zu denken und Schlechtes über ihn zu reden. Sie begannen Irgedwerle heimlich zu beobachten, um irgendetwas zu finden, womit sie ihm schaden könnten.

Und so bemerkten diese Menschen die Freundschaft mit dem Fuchs. Sie begannen zu tuscheln und zu flüstern hinter vorgehaltener Hand:

Ist es nicht seltsam, zischten sie, dass ein Mensch sich mit einem wilden Tier, wie der Fuchs es ist, unterhält, mit ihm zusammensitzt wie zwei gute Freunde es tun würden. Ist Irgedwerle vielleicht ein Magier? Woher kommt es, dass er Verlorenes wieder findet, als könne er hellsehen. Warum kennt er so viele Heilkräuter. Ist er gar ein Hexer?

 

Obwohl er ihnen noch immer half wie eh und je, obwohl er freundlich und hilfsbereit wie immer war, gelang es diesen wenigen Menschen im Dorf, andere misstrauisch zu machen.

 

Eines Nachts entlud sich ein Gewitter über dem Dorf. In die Scheune des Schultheißen schlug der Blitz und zerstörte sie bis auf den Grund.

 

Die missgünstigen Leute im Dorf suchten einen Schuldigen für dieses Unglück, und sie fanden ihn in Irgedwerle, dem Einzigen, der ihnen immer Hilfe war, der aber trotzdem, vielleicht auch genau deswegen, außerhalb der Gemeinschaft stand.

Sie rotteten sich zusammen und zogen mit Knüppeln und Messern bewaffnet zur Hütte des Irgedwerle.

 

Der Fuchs war wie jeden Abend zu Irgedwerle gekommen. An diesem Abend erzählte er ihm das Geheimnis:

 

„Fern im Osten gibt es Länder, in denen die Menschen den Fuchs bewundern. Sie glauben sogar, dass Füchse Boten der Götter sind. Hier werden die Füchse nicht gejagt, sondern in den Tempeln und Tempelgärten verehrt.

Dort lebte vor uralten Zeiten ein weiser Fuchs, der die Geheimnisse der Natur kannte. So war es ihm auch gelungen durch Meditation, Konzentration und Übung, den Übergang in die Welt der Menschen zu finden..

Er konnte sich in einen Menschen, sowohl in einen jungen wie in einen alten Menschen, in eine Frau oder einen Mann verwandeln. Dieses Wissen gab der alte und weise Fuchs an andere besonders ausgewählte Füchse weiter.

Wir beide sind Nachkommen dieses sehr weisen Fuchses. Du bist der Sohn einer Füchsin in Menschengestalt. Heute ist der Tag gekommen, an dem du deine ursprüngliche Gestalt annehmen und mit mir zurückkehren wirst in die Gärten und Tempel des Landes, in dem wir Füchse geehrt und geachtet werden.“

 

Als der Haufen aufgestachelter Dorfbewohner, die Hütte Irgedwerles erreichte, stand diese verlassen da. Nichts erinnerte daran, dass je jemand darin gewohnt hatte.

Nur zwei sehr alte Leute sahen die beiden Füchse, die am Waldrand zurückblickten auf das Dorf, dessen Bewohner Irgedwerle ans Herz gewachsen waren. Und sie glaubten zu wissen, was geschehen war, vielleicht geschehen war, vielleicht nur geahnt.

 

Seit dieser Zeit gab es im Dorf niemanden mehr, der Verlorenes wiederbringen konnte. Wenn jemand krank war, mußte er in die Stadt zum Arzt gebracht werden.

 

Ab und zu, ein-, zweimal im Jahr sah man einen Fuchs am Rande des Dorfes. Wenn an diesem Tag jemandem etwas abhanden gekommen war, fand er es wieder, wenn an diesem Tag jemand Kummer hatte, wurde er getröstet.

„Irgedwerle hat uns besucht“, sagten die Alten.

 

 

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