Die Sonnenelfe

 

 

Eines zeitigen Morgens ging ein Bauer über seine Felder. Der Frühling war eingekehrt, die Lerchen stiegen jubilierend in den blauen Himmel. Der Bauer sah, dass seine Saat gut aufgegangen war und der Sonne entgegen wuchs. Er lächelte zufrieden. Alles erschien wohl bestellt und er hoffte auf eine reiche Ernte.

 

Wie er so seinen Gedanken nachhing, bemerkte er unter einem Strauch sich etwas unruhig bewegen.

Neugierig trat er näher und was sah er: ein kleines Kind, ein Mädchen, lag da nackt im Gras. Es war so zart und zerbrechlich und es lächelte ihn an.

„Du armes Kleines, wer hat dich wohl hier ausgesetzt?“ dachte er. Nun hatte er zu Hause selber sechs Kinder, doch wo sechs satt werden, wird auch ein siebtes satt, sagte er sich. So nahm er das Findelkind mit zu sich heim.

 

Das Kind wuchs mit den anderen heran, spielte, lachte, weinte mit ihnen, aber es blieb zart und zierlich, ja schwächlich. Auf dem Hof konnte es nicht so tatkräftig mithelfen wie seine anderen Geschwister. Doch das glich es aus durch sein freundliches Wesen. Jedermann hatte es lieb gewonnen.

 

Etwas allerdings war seltsam an ihm: Manchmal, besonders morgens, wenn die Sonne über dem Berg aufging und ihre Strahlen das Findelkind umfassten, wollte man meinen, es sei durchscheinend wie lichter Nebel und gleich würde die Sonne es auflösen. Auch konnte es mit den Tieren reden, so verstanden es jedenfalls die Bauern im Dorf.

Mit jedem Tier sprach das Kind in einer besonderen Tonart, manchmal mit tiefer, manchmal mit hoher, mit heller oder dunkler Stimme. „Es versteht die Sprache der Tiere.“ sagten die Leute.

War ein Pferd oder eine Kuh erkrankt, fragte man zuerst nach dem Findelkind, und oft konnte es helfen. Erst wenn das Kind sagte: „Holt den Doktor!“ rief man den Tierarzt.

Der Bauer und seine Bäuerin erfasste eine gewisse Scheu ob dieser besonderen Fähigkeit ihrer Pflegetochter.

 

Das Findelkind, als es herangewachsen war, in seinem zwölften Jahr, erbat sich von den Pflegeeltern ein bestimmtes Stück Land, eine Wiese mit einigen Bäumen und einer Hecke darum herum, nahe am Haus. Hier wollte es einen Garten anlegen, einen „geheimen Garten“. Niemand sollte diesen Garten betreten, bis das Findelkind es erlaubt.

„Sorgt euch nicht um das, was ich tue,“ sprach es, „wenn die Zeit gekommen ist, werdet ihr alles sehen und verstehen.“

 

Als erstes baute das Findelkind eine kleine Hütte in eine Ecke des Gartens, es legte eine Feuerstelle an, trug verschiedenes hauswirtschaftliches Gerät zusammen und richtete so etwas wie eine Küche ein. Dann trug es unterschiedliche Steine herbei, verteilte verschiedene Erde aus dem Wald, von den Bergen, aus den Mooren und Sümpfen im Garten. Im zeitigen Frühjahr begann es zu pflanzen.

Im Herbst des ersten Jahres verbrachte es die meiste Zeit in der Hütte und man konnte sehen, dass es am Herd beschäftigt war, denn der Kamin rauchte fast jeden Tag.

Im Winter, als die Bäuerin ein schwerer Katarrh plagte, brachte es ihr aus seinem geheimen Garten einen Sirup, der mehrmals am Tag eingenommen, auf verblüffend schnelle Art der Bäuerin half. Als eines seine Geschwister stürzte, die Wunde sich entzündete und eiterte, legte es eine Pflanzenpaste auf und gab ihm einen besonderen Tee zu trinken. Die Wunde verheilte ohne weitere Beschwerden. Einmal stürzte der Bauer durch das Heu auf die Tenne und sein Knie schwoll an, so daß er nicht mehr ohne Schmerzen laufen konnte und am Ende gar einen Stock brauchte. Das Findelkind half ihm mit einem Kräuterbrei und nach zwei Tagen konnte er wieder laufen wie ein Junger.

Bei den unterschiedlichsten Unfällen und Krankheiten half das Findelkind seiner Pflegefamilie mit Heilmitteln aus seinem geheimen Garten.

 

Diese wunderbaren Heilungen konnten der Bauer und seine Bäuerin natürlich nicht für sich behalten. Sie erzählten davon im Dorf. So kam es, dass das Findelkind nicht nur zu den Tieren gerufen wurde, sondern auch zu den Menschen. Es verschloß sich keiner Bitte. Sogar Liebeskummer verstand es lindern.

 

Als der Tag, an dem der Bauer das Kind gefunden hatte, sich zum fünfzehnten Male jährte, weckte es noch vor Sonnenaufgang seine Pflegeeltern, führte sie in seinen geheimen Garten und sprach:

„Ihr habt euch meiner erbarmt, als ich schwach und hilflos war. Ihr habt mir ein Zuhause gegeben und mich gehalten wie euer eigens Kind. Jetzt ist meine Zeit gekommen. Ich kehre zurück in das Reich der Sonnenelfen, aus dem ich stamme.

Wisst, wir Sonnenelfen sind helfende Wesen. Doch es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, ob wir auch den Menschen helfen sollen. Einige von uns meinen, die Menschen seien im Grunde böse, habgierig, geizig und mitleidslos. Sie seien der Hilfe nicht würdig, andere wieder sagen, der Mensch sei gut, nur einzelne seien Gesindel.

Daher wollte ich erleben, wie Menschen wirklich sind. Ich wollte das Leben der Menschen kennen lernen, von Anfang an. So verwandelte ich mich in ein irdisches Kind, um zu erfahren, wie Menschen handeln.

Ihr habt mir gezeigt, dass die Menschen im Grunde ihres Herzens gut sind. Ich habe aber auch gesehen, dass es böse und ungerechte Menschen gibt, je nach den Umständen.

Ihr aber habt mich aufgenommen wie ein eigenes Kind, dafür wird dir“ und es wandte sich seinen Pflegevater, „stets eine reiche Ernte beschieden sein. So wie du es wünschtest, als du mich fandest.

Dir, “sprach das Findelkind zu einer Pflegemutter, „überlasse ich meinen „geheimen Garten“. Es ist ein Garten voller Kräuter. Nicht nur wachsen dort die würzigen für die Zubereitung des Festtagsessens, sondern auch die, welche die Kraft des Heilens besitzen.

So der Ehrenpreis, der entzündende Wunden heilt, aber auch zu einem guten Gedächtnis verhilft, der Silbermantel, der Eiter austreibt, Huflattich, der Katarrh lindert, Ringelblumen, die Narben glätten und bei Liebeskummer helfen, die Schlüsselblume, die Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen vertreibt und noch viele andere mehr.

In der Hütte wirst du ein Buch finden, in dem die heilende Kraft der verschiedenen Kräutern beschrieben ist und wie man sie anwendet. Benutze es gut und weise.“

 

In diesem Moment reichten die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne über den Berg. Sie umfingen das Findelkind, hoben es zu sich empor und entzogen es den Blicken des Bauern und seiner Bäuerin.

Das Wissen über die Kraft der Kräuter aber war so zu den Menschen gekommen.

 

Dem Bauern war jedes Jahr eine gute Ernte beschieden, so dass seine Familie nie Hunger leiden musste. Die Bäuerin aber wurde zu einer Heilkundigen für Mensch und Tier, bekannt und geachtet weit über ihr Dorf hinaus.

Auch heute noch findet man hin und wieder geheime Gärten und weise Frauen, die die Kraft und Wirkung der Heilkräuter kennen.

 

 

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