Die Armada der weißen Schwäne

 

 

 

Kuno, das Schwanenjunge war sehr eigensinnig. Wenn alle sich auf dem Rücken der Mutter versammelten, wollte es seinen eigenen Weg schwimmen.

„Du wirst noch einmal in große Gefahr kommen, wenn du dich nicht an die Gemeinschaft hältst“, sprach Vater Schwan. „In deinem Alter kann man sich keine Extratouren erlauben.“

Doch die Mahnungen der Eltern bekümmerten das Junge nicht. Als es größer wurde, und das gelbe Kleid der Küken sich in das Grau der Jungschwäne verwandelte, da schwamm es schon selbständig durch den gesamten Lech-Stausee. Es hörte viele Geschichten von den alten Schwänen: Geschichten von ihren Reisen entlang der Küsten Mitteleuropas, von den Schwänen, die ihre Freiheit der Sattheit geopfert haben und halbgezähmt sommers wie winters auf Teichen sich füttern lassen, von den Zeiten als Schwäne noch mit den Göttern in Verbindung und im Rufe der Weissagung standen.

Eine Geschichte jedoch fesselte ihn besonders. Ein sehr alter Schwan, der seit langer Zeit einsam lebte, erzählte manchmal, wenn die Sonne ihr rotgoldenes Licht über das Wasser legte und er ein wenig melancholisch wurde, von der Armada der weißen Schwäne. Sie sei Retter und Rächer der Schwäne. Immer wenn Schwäne in Not seien, greife sie ein. In seiner Jugendzeit hatte er sie ein einziges Mal gesehen. Sie war gekommen, um ein Brutrevier gegen Wilderer zu verteidigen. Niemand wußte, woher sie kam. Unerwartet war sie da. Eingeflogen oder angeschwommen oder auf welche geheimnisvolle Weise auch immer sie gekommen war. Sie war da. „Sie hat uns damals geholfen. Sie hat die Wilderer vertrieben“, sprach der alte Schwan. „Sie war auch immer da, um einen sterbenden Schwan in den Himmel der Schwäne zu begleiten“, erzählte er weiter. „Aber seit damals habe ich sie nie mehr gesehen oder von ihnen gehört. Hoffentlich gibt es sie noch, auch meine Zeit ist bald zu Ende.“

„Ich werde sie suchen, diese Armada der weißen Schwäne“, versprach Kuno dem alten Schwan.

Als ihm dann die weißen Federn wuchsen und seine Schwingen kraftvoll wurden, verabschiedete er sich von Eltern und Geschwistern und machte sich auf, die Armada zu finden. Die Bedenken des Vaters, die Sorgen der Mutter hörte er schon nicht mehr. Er stieg auf, war bald nur noch ein Punkt am Horizont.

 

Er flog und flog. Der junge Schwan spürte, wie eine nie gekannte Kraft durch seinen Körper strömte, während er mit langsamen Flügelschlägen dem Horizont zustrebte.

Nun war er auf sich allein gestellt. Doch keine Furcht überkam ihn, die Freude über die neu gewonnene Freiheit füllte sein gesamtes Denken aus.

 

Gegen die Mittagszeit erkannte er, dass er über ein ihm völlig unbekanntes Gebiet flog. Er hielt Ausschau nach einem See oder einem breiten Fluß. Denn nur auf einem großen Gewässer - so war er sich sicher - würde die Armada der weißen Schwäne zu finden sein.

Da erblickte er vor sich ein Glitzern und Funkeln in der Sonne, Das musste ein See sein. Er erhöhte seine Fluggeschwindigkeit. Möglichst schnell wollte er dorthin gelangen, auch weil er Hunger verspürte.

Urplötzlich erhob sich ein Gegenwind, der seinen Flug mühsam machte. Jeden Meter über Grund mußte er sich hart erarbeiten.

Außerdem narrte ihn der See. Er schien stets so nah, um mit jedem Flügelschlag wieder von ihm fortzustreben.

Der junge Schwan wurde müde. Zu allem Unglück verdunkelte sich der Himmel. Beinahe zu spät bemerkte er das nahende Unwetter.

Er musste landen. Doch er fand keine Wasser. Mit den ersten schweren Regentropfen landete er auf einer Wiese. Schwerfällig wanderte er zu einem nahen Busch, unter dem er das Unwetter abwarten wollte.

Nachdem Sturm, Blitz, Donner und Regen nachgelassen hatten, stellte er fest, dass es Abend geworden war. Wo sollte er die Nacht verbringen? Es fand keinen sicheren Platz. Die ersten Zweifel überkamen ihn. Hatten seine Eltern doch Recht als sie ihn vor den Gefahren außerhalb des heimatlichen Gewässers warnten?

 

„Wer ein Ziel hat, wird den Weg finden.“

 

Diesen Spruch hatte der alte Schwan öfters gesagt. Er munterte ihn auf. Also legte er sich in das feuchte Gras und beschloß, hier die Nacht zu verbringen.

Kaum graute es am Himmel, wachte er auf, fraß einige Kräuter und startete, zugegebenermaßen schwerfällig, auf der Wiese zum Weiterflug, dem See entgegen, den er gestern gesehen hatte.

Heute erreichte er ihn schnell. Er entdeckte einige Schwäne, in deren Nähe er niederging. Sofort kam einer von ihnen auf ihn zugeschwommen und fauchte ihn böse an: „Starte sofort wieder und verlasse unser Territorium. Für dich ist kein Platz hier.“ Der junge Schwan war überrascht. „Ich habe nicht vor hier zu bleiben. Wie ich sehe, lebt hier nicht die Armada der weißen Schwäne.“ „Was soll Armada der weißen Schwäne bedeuten? Wir haben noch nie davon gehört.“ – „Aber sie ist doch der Schutz und Rächer der Schwäne. Sie hilft, wenn wir in Not sind.“ Erzählte Kuno aufgeregt. „Wir sind nicht in Not“, sprach stolz der Schwan. „Wir leben hier in diesem Park, der einer Familie reicher Menschen gehört. Sie füttern uns, kümmern sich um uns. Sie sind unsere Ernährer.“

„Lebt ihr schon lange hier?“

„Wie leben seit unserer Geburt hier.“

“Oh, ihr könnt nicht wegfliegen“, Kuno erinnerte sich an die Erzählungen der alten Schwäne. „Euch sind die Schwungfedern gestutzt worden.“

„Wir wollen nicht wegfliegen.“

Der Schwan drehte sich um, schwamm hoch erhobenen Hauptes davon und ließ Kuno allein.

Da sah Kuno wie ein Fuchs, geschützt durch Buschwerk, an das Seeufer schlich. Ein Schwanenjunges hatte sich von den anderen entfernt und versuchte, Gräser vom Uferrand zu zupfen. Auf dieses Junge hatte der Fuchs es abgesehen.

Ehe die anderen Schwäne die Gefahr auch nur erkannten, breitete Kuno seine Flügel aus und jagte über das Wasser auf den Fuchs zu. Knapp vor dessen Maul stieg er auf und schlug ihm mit einem Flügel den Kopf zur Seite

Das war dem Fuchs noch nie passiert. Er duckte sich zum Sprung, um den wieder anfliegenden Schwan zu fassen. Kuno zog nach oben, der Fuchs sprang ins Leere.

Noch einmal flog Kuno an, doch da hatte der Fuchs schon das Weite gesucht. Kuno landete neben dem Jungvogel und begleitete ihn in die Mitte des Sees zu seinen Eltern.

Ohne den Dank abzuwarten, erhob Kuno sich wieder in die Luft, richtete seinen Blick gegen 12 Uhr und seine Gedanken auf sein Ziel.

Gegen Abend ließ er sich am Ufer eines breiten Flusses nieder, in dem zahlreiche Schwäne schwammen..

 

Da sah er Boote herankommen mit seltsam gekleideten Männern darin. Einer trug eine rote Jacke und eine Mütze, deren Schild eine weiße Schwanenfeder zierte. Die Boote kreisten die Schwäne ein, die Männer packten sie, zogen sie ins Boot, zeigten sie dem mit der roten Jacke und dann verschnürten sie mit Stricken die armen Schwäne. Sogar die jungen mit grauem Gefieder, zogen sie in ihr Boot. Kuno wunderte sich, dass außer bei den jungen Schwänen es bei den anderen keine besondere Aufregung gab über das, was die Männer taten. Kuno jedenfalls versuchte, einen möglichst sicheren Abstand zwischen sich und die Boote zu bringen.

„Habe keine Sorge“, sprach ihn ein erwachsener Schwan an. „Die <swan markers> der Königin beringen die Schwäne nur, damit man erkennen kann, dass sie der königlichen Familie angehören. Sie setzen jeden Schwan wieder ins Wasser zurück.“

„Dann sind das alles Gefangene!“ rief Kuno entsetzt.

„Nein. So darfst du das nicht sehen. Natürlich sind sie frei hinzufliegen, wo immer sie wollen. Doch wenn sie irgendwo anders entdeckt werden, dann bringt man sie zurück.“

„Also sind sie Eigentum von Dritten, keine freien Schwäne, nur sich selbst und ihrer Sippe verantwortlich.“

Kuno erhob sich in die Luft, obwohl es schon begann dunkel zu werden. Hier wollte er nicht länger bleiben.

Die Schwäne auf dem Fluß sahen ihm voll Entsetzen nach.“Bleib doch, bleib“, riefen sie.

Kuno wusste, dass Schwäne nicht in der Nacht fliegen sollten. Sie verloren zu leicht die Orientierung. Das war eine der Regeln, die jedes Schwanenjunge sehr früh kennen lernte.

Kuno aber dachte in diesem Augenblick nicht an jenen Ratschlag, und hätte er daran gedacht, hätte er ihn ignoriert, er war nur von dem Gedanken besessen, seine Freiheit zu behalten, um die Armada der weißen Schwäne zu finden.

Als die Dunkelheit sich über den letzten Schimmer am Horizont senkte, landete Kuno auf einem Teich, dessen Wasser schon die Schwärze der Nacht angenommen hatte. Er konnte nichts mehr erkennen und schwamm, so hoffte er, in die Mitte des Wassers, wo man als Schwan normalerweise sicher ist.

 

„Mutig und ein bisschen leichtsinnig.“ Im Osten färbte sich der Himmel hell. Neben Kuno befand sich ein Schwan, wie Kuno noch keinen gesehen hatte. Er war schwarz. Kuno erschrak.

„Hab keine Furcht, ich bin ein Trauerschwan, daher mein schwarzes Gefieder. Ich habe dich gestern landen sehen. Was hat dich dazu gebracht, bei Dunkelheit zu fliegen? Es hätte schlecht für dich ausgehen können.“

Kuno faßte Vertrauen zu diesem schwarzen Schwan und er erzählte seine ganze Geschichte. Ohne zu unterbrechen, hörte der Trauerschwan ihm zu. „Glaubst du“, fragte Kuno zuletzt, „es gibt sie wirklich die Armada der weißen Schwäne?“

„Es gibt sie“, antwortete der Trauerschwan bestimmt, „wie es auch eine Armada der schwarzen Schwäne gibt.“

„Wo finde ich sie, weißt du, wo ich sie finde? Bitte, gib mir einen Hinweis, “ Kuno war ganz aufgeregt.

„So wie die Armada kommt, wenn ihre Hilfe benötigt wird, so wirst du sie finden, wenn deine Zeit gekommen ist. Fliege zurück zu deiner Sippe, warte und vertraue.“

 

Der schwarze Schwan breitete seine Schwingen aus, begann über das Wasser zu laufen und erhob sich, blickte noch einmal zu Kuno zurück, grüßte mit der rechten Schwinge und verschwand im Licht der aufgehenden Sonne.

 

Kuno dachte noch ein wenig über das Gesagte nach,

„Alles hat seine Zeit“

Wieder kam ihm ein weiser Spruch des alten Schwans seines heimatlichen Sees in den Sinn.

Er entschloß sich das zu tun, was der schwarze Schwan geraten hat: zu vertrauen und zu warten, bis seine Zeit gekommen ist.

Also machte er sich auf, Richtung Heimat zu fliegen.

 

Schon bald kam Kuno die Landschaft bekannt vor, schon konnte er den heimatlichen Fluß erkennen, da sah er sie:

Die Armada der weißen Schwäne.

Er wusste sofort, das musste sie sein. Stolz schwammen sie in gelockerter Formation auf dem See.

Kuno ließ sich in ihrer Nähe nieder. Da kam ein großer, prächtiger Schwan auf ihn zu.

 

„Wir haben dich erwartet“, sprach er zu Kuno. „Wir haben deine Reise verfolgt. Du hast dein Ziel nie aufgegeben.

Wir haben gesehen, dass du mutig und stolz bist, dass du die Freiheit liebst und bereit bist, dein Leben zu riskieren um zu helfen.

Das sind die Eigenschaften, die ein Mitglied unserer Armada besitzen muß.

Komm mit, ab jetzt gehörst du zu uns.

 

So war Kuno aufgenommen in die Armada der weißen Schwäne. Und seine Eltern waren stolz auf ihn.

 

 

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