Das Fünfte von einem Ganzen

 

 

Über dem See stand eine stolze Burg mit hohen abweisenden Mauern und einem dicken runden Turm. Durch eine niedrige eiserne Tür kam man in den Burghof. Ein schmaler steiler Pfad führte vom See hinauf.

Eine wunderschöne Prinzessin wohnte dort oben.

Einmal im Jahr verließ sie ihre Burg, und zwar kam sie zum Kirchweihtanz im Gasthof unten am See. Ihr Gastgeschenk waren stets 5 Goldstücke.

Die Prinzessin tanzte mit jedem, der zum Kirchweihtanz kam. Ihr Mund lächelte, ihre Augen blickten starr. Wenn die Glocken Mitternacht zu schlagen begannen, brach sie auf. Die jungen Burschen versuchten, sie zurückzuhalten, fassten sie beim Tanz fest um die Taille, damit sie ihnen nicht entkäme. Doch nichts half. Sie entwand sich den Händen, verließ den Saal und war beim letzten Glockenschlag verschwunden. Viele versuchten, ihr nachzulaufen, doch sie sahen niemanden auf dem Weg. Einige rannten bis zur Burg, schlugen gegen das eiserne Tor. Sie holten sich nur blutige Knöchel. In der Burg blieb es still, totenstill.

 

Einmal im Jahr allerdings, zu Johannis, lud auch die Prinzessin zu einem großen Fest. Jeder war willkommen, ob König oder Bauer, ob Hirt oder Prinz. Es galt nur eine Bedingung: Wer eintreten wollte, musste das Fünfte von einem Ganzen als Gastgeschenk mitbringen.

 

So fanden sich die seltsamsten Dinge als Eintrittsgabe:

Ein Blütenblatt der dunklen Akelei, ein Stempel der Christrose, der fünfte Zacken einer Krone, das Fünfte eines Kerngehäuses von Apfel oder Quitte. Mancher zerschnitt einen Mantel oder einen Teppich in 5 Teile, um das geforderte Fünfte zu bringen.

Alle diese Geschenke wurden in eine Truhe beim Eingang gelegt und der Gast durfte durch die niedrige Eisentür eintreten.

 

Wie überrascht war jeder, der zum ersten Mal an diesem Fest teilnahm. Er betrat einen herrlichen Park, mit wunderbaren Blumen in allen Farben, Springbrunnen rauschten, in goldenen Käfigen sangen Vögel unbekannter Art. Auf langen Tischen gab es die vielfältigsten Speisen, Getränke wurden gereicht, übervolle Schalen mit fremdländischem Obst standen zwischen Blumenrabatten.

Die Prinzessin ging unter ihren Gästen herum, nötigte freundlich jeden zu essen und zu trinken so viel er wollte. Zwischendurch wurde zum Tanz aufgespielt und die Prinzessin tanzte auch mit jedem Gast.

Ihr Mund lächelte, aber ihre Augen blickten starr. Es schien, als schaute sie durch jeden Gast hindurch, so als stände ein anderer dahinter, den nur die Prinzessin sehen konnte.

 

Punkt zwölf Uhr war das Fest zu Ende. Jeder musste beim letzten Glockenschlag die Burg verlassen haben. Wer nicht freiwillig ging, wurde von groben Fäusten unsanft gepackt und fand sich am nächsten Morgen zwischen Dornen im Gestrüpp weit von seiner Behausung entfernt.

 

Eines Tages, als das Fest in der Burg schon weit fortgeschritten war, verlangte ein verspäteter Gast Einlaß. Es war ein junger Hirte, der noch ein verirrtes Tier zur Herde zurück bringen musste, bevor er sich aufmachte, das Fest der Prinzessin zu besuchen. Es war sein erster Besuch. Er kam in seiner Hirtenkleidung, ein wenig zerrissen von Dornen, zerschrammt von scharfen Felsen vor das Eisentor.

„Dein Gastgeschenk!“ forderte der Hüter des Tores, „ein Fünftel von einem Ganzen.“ Und er hielt die Hand auf.

„Ich selbst bin das Gastgeschenk“, sprach der Hirt. „Ich bin das fünfte und letzte Kind meiner Eltern.“

So etwas war neu für den Hüter des Tores. Er musste sich zuerst Rat einholen. Also gebot er dem Jungen zu warten und schloß das Tor.

Zurück kam er mit der Prinzessin. Dem Hirten erschien sie schöner als jede Erzählung es beschreiben konnte.

Sie nahm ihn an der Hand, führte ihn durch den Park in die Burg, zwischen allen Gästen hindurch. die ihnen verwundert nachsahen. Manchem schien es, als blickten die Augen der Prinzessin nicht mehr so starr und ausdruckslos. Ja, sie meinten ein geheimes Funkeln darin zu erkennen und wunderten sich.

Die Prinzessin führte den jungen Hirten in einen hohen Saal, darin sich nichts befand als ein Strohlager in der Mitte.

„Bist du gekommen, um zu feiern, zu essen, zu trinken und zu tanzen?“

„Ja“, rief der Hirte aus „und um dich zu sehen. Von deiner Schönheit spricht das ganze Land. Aber keine Worte können beschreiben, wie schön du wirklich bist.“

„Wisse“, sprach die Prinzessin. „Meine Schönheit war mein Verderben. Ein mächtiger Hexenmeister entbrannte in Liebe zu mir. Fünf Mal freite er um mich, ich habe jedes Mal nein gesagt. Aus Rache verbannte er mich, hier in Einsamkeit zu leben. Zweimal im Jahr darf ich unter die Menschen, aber er hat mir die Gefühle genommen. Ich kann weder Freude noch Schmerz, weder Liebe noch Haß empfinden, nur die Hoffnung ließ er mir. <Fünf Mal hast du mich abgewiesen!> So schrie er. <Nur mit dem Fünftel von einem Ganzen, das wiederum ein Ganzes ist, kannst du erlöst werden.> Das war sein Fluch.

Darum habe ich immer ein Fünftel als Gastgeschenk gefordert. Doch bis jetzt war jedes Fünftel auch nur ein Teil, nie ein Ganzes.“ Fuhr sie fort. „Aber vielleicht bist du es, der mich erlösen kann. Lange habe ich auf jemanden wie dich gewartet. Nun bist du gekommen“.

„Selbstverständlich werde ich dich erlösen. Was muß ich tun?“ rief der junge Hirt voll Enthusiasmus.

„Auf diesem Strohlager musst du ausharren, bis der Morgen graut. Laß dich nicht verleiten, aufzustehen. Vor allem darfst du nicht sprechen. Kein einziges Wort. Du musst standhaft bleiben und darfst keine Angst haben, egal was passiert. Eine ganze Nacht musst du aushalten, “ erklärte die Prinzessin.

 

„Ich werde alles tun, um dich zu erlösen. Alles!“, versprach der Hirte.

Die Prinzessin sah ihn noch einmal eindringlich an. Und tatsächlich leuchteten ihre Augen ein ganz klein wenig. Dann drehte sie sich um und ließ ihn allein.

 

Der Hirte legte sich auf das Strohlager.

Vom Park drang das Gelächter und die Fröhlichkeit der Gäste herein, die Musik spielte so lieblich. Wie gerne wäre der Hirt unter den Feiernden gewesen. Es juckte ihn in seinen Beinen, er wollte tanzen und springen.

Um nicht schwach zu werden, umwickelte er seine Ohren mit Stroh, damit er nichts mehr höre.

Plötzlich ging die Tür auf. Die Prinzessin kam herein. Sie lächelte so freundlich und lieb, dass dem Hirten ganz warm ums Herz wurde. Sie wickelte das Stroh von seinen Ohren. „Komm mit mir tanzen“, bat sie ihn und nahm seine Hand. Schon wollte der Hirte aufstehen und ihr folgen, da bemerkte er, dass ihre Hand kalt wie Eis war. Erschrocken verkroch er sich tiefer in sein Strohlager und schüttelte energisch den Kopf. Da wurde aus der hübschen Prinzessin ein widerlicher Dämon, der sich mit lautem Getöse und fürchterlichem Gestank in Luft auflöste.

 

Kaum hatte sich der Hirt ein wenig beruhigt, als wiederum die Tür aufging. Ein Hirte, wie er einer war, kam herein. Es schien, als suche er etwas und entdecke überraschend unseren Hirten auf seinem Lager.

„Ei, was machst du denn hier. Bist du müde vom Tanzen geworden?“

Unser Hirte schüttelte den Kopf.

„Warum verkriechst du dich dann auf diesem Stroh? Komm, steh auf. Hast du schon von den Granatäpfeln gekostet oder von der herrlichen Fleischpastete? Hast du überhaupt schon getanzt?“

Wieder schüttelte unser Hirt den Kopf.

„Ich sehe“, sagte der andere, “du bist zum ersten Mal hier und jetzt erschreckt dich der Glanz dieses Festes. Komm mit mir. An meiner Seite wirst du alles kennen lernen und alles genießen können. Ich führe dich ein, denn ich kenne mich hier aus.“

Es klang so verlockend, und der andere wirkte so ehrlich und kameradschaftlich.

Doch als er sich jetzt über unseren Hirten beugte, um ihm aufzuhelfen, da umwehte ihn ein Gestank nach Schwefel.

Unser Hirt vergrub sich tief in sein Strohlager, hielt sich die Ohren zu, um nichts mehr hören zu müssen, von dem was der andere ihm Verlockendes erzählte. Da stieß dieser einen graulichen Fluch aus, verschwand als Teufel mit Bockshörnern und Ziegenfuß durch den Kamin.

 

Als die Glocke Mitternacht schlug und im Park alles still, totenstill, wurde, glaubt der Hirte, nun habe er Ruhe. Aber jetzt ging es erst recht los. Dämonen, Hexen, Ungeheuer strömten in den Saal und begannen einen wilden Tanz mit Geschrei und Gejohle. Mit ihren grässlichen Fratzen lachten sie dem Hirten ins Gesicht, spuckten ihn an, stießen und traten ihn, dass ihm jeder Knochen im Leib weh tat. Wie gerne wäre er aus dem Saal gerannt, um diesen Unholden zu entkommen. Da erschien vor seinem inneren Auge das Bild der wunderschönen Prinzessin und er erinnerte sich, dass er alles tun wollte, um sie zu erlösen, alles. Also ertrug er tapfer ohne den leisteten Schmerzenston alles, was den Unholden einfiel.

Als der Hahn zum ersten Mal krähte, verschwand der Spuk. Ruhe kehrte ein.

Plötzlich erklang leise Musik, die Prinzessin schritt begleitet von Dienern und Dienerinnen lächelnd auf ihn zu. Da bemerkte er auch, dass er gar nicht mehr auf Stroh lag, sondern in einem weichen seidenen Bett. Der kahle Saal hatte sich in ein prunkvolles Gemach verwandelt.

Die Prinzessin nahm ihn an der Hand, so wie sie es bei seiner Ankunft getan hatte. „Du hast mich aus der Gewalt des Hexenmeisters erlöst. Komm mit in meines Vaters Schloß.“

„Gerne komme ich“, antwortete der Hirte, „wenn du meine Frau werden willst.“

Das wollte die Prinzessin gerne. Sie zogen fort in ein fernes Reich.

Die Burg über dem See aber zerfiel und niemand findet mehr die Stelle wo sie stand.

 

 

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