Die Glockenblumen (nach einer Sage)

 

 

Zwei Fürsten führten Krieg gegeneinander, einer wollte des anderen Land, wie schon so oft.

 

In dem kleinen Dorf hinter den bewaldeten Bergen hatte man davon noch nichts gehört.

Die Bauern bereiteten sich auf ein großes Fest vor. Die lang ersehnte Kirche war mit Müh und Not und viel Arbeit endlich fertig gestellt worden. Sogar zwei kleine Glocken konnten sie gießen lassen.

Heute sollten diese Glocken auf den Turm gezogen und die Kirche geweiht werden.

Alle hatten sich festlich gewandet, der Pfarrer schritt mit dem Weihwasser aus der Kirche, die Ministranten schwenkten die Weihrauchbecken. Der Bürgermeister hatte seine goldene Amtskette umgelegt und stand in Positur. Der Gesangverein setzte zu einem Choral an, als ein erschöpfter Reiter in die feierlich Runde sprengte.

 

„Lauft, rettet euch, feindliche Soldaten rücken plündernd und marodierend vom Berg heran! Ich bin ihnen gerade noch entkommen.“

 

Die Bauern überfiel große Angst.

“Auf in die Stadt, hinter die dicken Mauern!“ gellte der Ruf.

Alle rannten in ihre Häuser, rafften zusammen, was sie tragen konnten und vergruben, was sie nicht mitnehmen konnten. Dann flüchteten sie in Richtung der nahen Stadt, wo sie Schutz für ihr Leben erhofften. Auch der Pfarrer war geflüchtet, ebenso der Bürgermeister, er hatte noch die Amtskette um den Hals.

 

Nur ein Feldgeschworener, ein Greis von 80 Jahren und der Dorfhauptmann waren geblieben. Sie wollten die beiden Glocken retten. Die sollten den Feinden nicht in die Hand fallen, sie würden sie doch nur einschmelzen und daraus Kanonenkugeln gießen lassen.

Doch wohin mit den Glocken? Der Wald war zu weit, der Weg zu beschwerlich. Pferde und Wagen gab es nicht mehr, die hatten die Flüchtenden mitgenommen.

Es gab nur den nahen Sumpf, mit dem kleinen See in der Mitte.

„Dieser See soll so tief sein, daß ein ganzer Kirchturm darin verschwindet“, sagte der Greis. „Laßt uns die Glocken dort versenken. Und wenn der Krieg zu Ende ist, holen wir sie wieder heraus.“

„Der Sumpf ist gefährlich“, erwiderte der Feldgeschworene. „Schon mancher soll darin versunken sein.“

„Ich führe euch“, antwortete der Greis. „Ich kenne die sicheren Stellen. Ihr müsst nur ganz eng hinter mir gehen.“

Der Dorfhauptmann nahm seinen Spieß und schob ihn durch die Krone der Glocken. Er und der Feldgeschworene nahmen den Spieß auf ihre Schultern. Die Glocken waren schwer. Vorsichtig gingen sie hinter dem Greis her, sorgfältig darauf achtend, nur nicht die sicheren Trittstellen zu verfehlen.

Am See angekommen, ließen sie die Glocken fast geräuschlos in das Wasser gleiten, als mehrere Reiter am Rand des Sumpfes auftauchten. Mit wildem Geschrei sprengten sie auf die drei zu.

Doch keine zwei Pferdelängen waren sie vorangekommen, da versanken sie mitsamt ihren Rössern. Keiner konnte sich retten. Der Sumpf verschlang sie und schloß sich über ihnen als hätte es sie nie gegeben.

 

Das Dorf wurde völlig zerstört. Erst nach vielen, vielen Jahren kehrten einige Menschen zurück. Sie bauten das Dorf wieder auf, sie bauten eine Kirche und neue Glocken läuteten vom Turm. Die Geschichte von den alten Glocken wurde von den Großmüttern den Enkeln erzählt und von Mal zu Mal wurde die Geschichte freundlicher und lieblicher. Kinder durfte man nicht ängstigen.

Der Sumpf am Rand des alten Dorfes war getrocknet, der See verlandet. An seiner Stelle aber begannen Blumen zu blühen, zahlreich und so blau wie die Farbe des Sommerhimmels. Ihre Blüten waren wie zarte Glocken geformt. Man nannte sie Glockenblumen.

Wenn der Abend naht und man mit guten Gedanken ganz still im Gras daneben sitzt, kann man ein leises Klingen vernehmen. Sind es nun die versunkenen Glocken oder die Blumenglocken der Glockenblumen? Wer weiß?

Aber, wer das Klingen hört – so sagt man – der darf sich etwas wünschen. Vielleicht geht es in Erfüllung.

 

 

 

| zurück | weiter |