Die Kleinen Leute

 

 

Es waren einmal zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Ihnen waren die Eltern gestorben und sie standen nun mutterseelenallein in der Welt. Das Haus, in dem sie mit Vater und Mutter gelebt hatten, mußten sie verlassen, denn es war dem Vater nur zugeteilt als Flößerknecht. Jetzt hatte eine andere Familie Anrecht darauf.

Man entschied, schließlich wollet man die Kinde nicht schutzlos lassen, dass jede Familie im Dorf die Kinder jeweils 4 Wochen bei sich aufnehmen mußte. Sie sollten dafür arbeiten soweit es in ihren Kräften stand.

 

Es war kein schönes Leben für die beiden. Sie waren in jedem Haus Eindringliche, sie schliefen im Stall, in der Scheune oder unter der Treppe. Zum Essen erhielten sie manchmal nur die Reste, die übrig geblieben waren. Oft gingen sie hungrig auf ihr Lager. Niemand sprach mehr als das Nötigste mit ihnen, außer einer alten, sehr alten Frau, zu der sie manchmal am Abend huschten, Sie erzählte ihnen nämlich Märchen und Geschichten.

Eines Abends sagte der Junge zu seinem Schwesterchen: „Niemand mag uns hier. Laß uns fortgehen, vielleicht finden wir irgendwo Menschen, die uns gerne aufnehmen, oder vielleicht helfen uns die Kleinen Leute.“ Die Kleinen Leute, das wussten sie von der alten, sehr alten Frau, gehören zu den Unsichtbaren und halfen den Menschen ab und zu. Die Schwester vertraute ihrem großen Bruder und so machten sie sich ganz früh, schon bevor die Morgendämmerung den Himmel im Osten färbte, auf den Weg.

 

Gleich hinter dem Dorf begann ein dunkler Wald. Ohne Furcht gingen sie immer tiefer hinein. Gegen Mittag kamen sie an einen kleinen See .Sein Wasser leuchtete blau wie ein Diamant. „Oh wie schön“, rief die Schwester. „hier wollen wir eine Pause machen und ein wenig ausruhen.“.

Bruder und Schwester setzten sich an das Ufer des Sees, nahmen zwei Stücke Brot aus ihrer Tasche, die sie sich vom Abendessen aufgespart hatten und begannen ihr kärgliches Mittagmahl.

„Oh, Brot, richtiges Brot!“ sprach plötzlich eine Stimme hinter ihnen. „Wie lange schon habe ich kein Brot mehr gegessen! Gebt ihr mir etwas davon ab?“ Hinter den Kindern stand ein uraltes, kleines Männlein und sah sie bittend an. Sie hatten es nicht kommen hören.

„Wir haben selber nicht viel,“ sagte der Junge, „aber ich gebe dir gerne etwas ab.“ „ Ich gebe Dir auch von meinem Brot,“ rief das Mädchen freundlich, „setz dich doch zu uns.“ Und sie rutschte ein wenig zu Seite.

Das uralte Männlein setzte sich dazu, aß von dem Brot, lächelte die Beiden an und sprach: „Weil ihr von dem Wenigen geteilt habt, werdet ihr finden, was ihr sucht.“ Damit war das uralte Männlein verschwunden, ganz plötzlich. Nicht einmal das Gras war niedergedrückt dort, wo es gesessen hatte.

 

Als es dunkel wurde, waren die Kinder noch immer nicht aus dem Wald herausgekommen. „Wir werden hier übernachten müssen“, sprach der Bruder zu seinem Schwesterchen. „Hab keine Angst.“ „Wovor sollte ich Angst haben“, erwiderte sie, „die Kleinen Leute passen bestimmt auf uns auf.“

Sie legten sich, eng aneinander geschmiegt, in eine aufspringende Wurzel, und es war ihnen, als lägen sie in einem weichen Bett geborgen.

 

 

Als sie erwachten, blickten sie verwundert um sich. Hatten sie sich nicht gestern in einem dunklen Wald mit hohen Bäumen zum Schlafen niedergelegt? Jetzt befanden sie sich auf einer blühenden Wiese. Schmetterlinge gaukelten von Blüte zu Blüte, an den Grashalmen glitzerten Tautropfen wie kleine Diamanten. Im Laub des hohen Baumes, an dessen Fuß sie saßen, sang eine Drossel, aus dem nahen Busch tirilierten zwei Finken.

Wie die Kinder noch voll Überraschung diese neue Umgebung betrachteten, stand ein winziges Männlein vor ihnen.

„Willkommen im Reich der Kleinen Leute“, begrüßte er sie. „Unser König bittet euch in sein Schloß.“

Stumm vor Staunen nahm der Junge seine Schwester bei der Hand und sie folgten dem Boten.

Der führte sie zu einem hohen weißen Schloß mit Türmen und Türmchen, mit Erkern und Zinnen. Sie gingen durch ein weit offenes Tor und wurden in einen Thronsaal geführt. Dort saß der König der Kleinen Leute. „Kommt nur näher“, rief er fröhlich. „Ich freue mich, dass ihr hier seid.“ Als die Geschwister vor dem Thron standen, merkten sie, dass der König das uralte, kleine Männlein war, mit dem sie ihr Brot geteilt hatten. Nur sah es jetzt jünger aus und war natürlich nicht mehr so ärmlich gekleidet.

„Wundert euch nicht“, sprach der König der Kleinen Leute. „Ihr wart mitleidig und freundlich, darum habe ich euch in mein Reich geholt. Ihr seid hier meine Gäste.“

Zuerst durften die beiden Geschwister sich einmal satt essen. Dann zeigte ihnen der König persönlich sein Reich:

Das Schloß mit seiner ganzen Pracht, den königlichen Park und die Gärtnerei. Dann die Ländereien, die Bauernhöfe, die Mühlen, die Bergwerke, die Handwerker, die Fischer. Es war alles wie auf der Erde. Die Kleinen Leute aber waren viel freundlicher und fröhlicher bei ihrer Arbeit als der Junge und seine Schwester das von ihrem Dorf kannten.

Zuletzt kamen sie zu an einen Fluß, auf dem eben ein großes Floß beladen wurde. “Unser Vater war auch Flößer“, rief der Junge. „Das will auch ich einmal werden.“

„Möchtest du das Flößerhandwerk lernen?“ frug der König der Kleinen Leute.

„Oh ja, gerne!“

„Dann kannst du sofort beginnen.“ Der König übergab den Jungen einem Flößermeister, der ihn freundlich aufnahm.

 

„Möchtest du auch gerne etwas tun?“ Der König wandte sich an das Mädchen.

„Ich möchte so gerne Kindern helfen, die keine Eltern mehr haben wie wir. Oder deren Eltern keine Zeit für sie haben. Ich will, dass sie nicht alleine sind und ich werde sie alle lieb haben.“

Das Mädchen bekam ganz rote Wangen vor Eifer. Der König sah sie lächelnd an. „Ich werde dir helfen“, versprach er.

Und so kam es, dass das Mädchen bei einer weisen Frau, einer Fee, lernte wie man mit kleinen Kindern spielt, wie man sie lehrt, wie es ihnen gemäß ist, wie man ihnen ein Zuhause richtet. Es lernte alles, was man wissen muß, um wie eine Mutter zu sein.

So lebten die beiden bei den Kleinen Leuten, arbeiteten mit ihnen, feierten mit ihnen, tanzten und lachten mit ihnen und hatten keine Sorgen.

 

Eines Tages ließ der König sie vor sich bringen.

„Wir müssen Abschied nehmen. Es wird Zeit“, sprach er zu ihnen, „dass ihr wieder zurückkehrt. Wißt, wir Kleinen Leute erlauben nur wenigen Menschen in unserem Reich für eine Weile zu leben. Ihr habt euch würdig erwiesen. Ihr wart uns eine angenehme Gesellschaft.“

Er gab jedem der beiden einen leuchtend weißen Stein, funkelnd wie ein Tropfen Sonnenlicht im Grün der Gräser.

„Nehmt“, sprach er, „dieser Stein wird euch helfen. Wann immer etwas wirklich Schwieriges oder Gefährliches auf einen von euch zukommt, umfasst diesen Stein fest mit euerer Hand und ihr werdet wissen, wie ihr handeln müßt. Mißbraucht die Gabe nicht.“

 

Der Junge und seine Schwester erwachten vom Gesang der Vögel. Sie lagen unter der aufspringenden Wurzel und es war ihnen, als erwachten sie aus einem schönen Traum. Doch als sie entdeckten, daß sie in ihrer Hand einen leuchtend weißen Stein hielten, da wußten sie, sie hatten nicht geträumt.

 

Sie fanden den Weg zurück in ihr Dorf. Doch dort kannte sie niemand mehr. Auch ihnen war vieles unbekannt und neu. Sie hatten nicht erkannt, dass die Zeit sich wandelt für den, der mit den Unsichtbaren Gemeinschaft hat. Sie wussten nicht, dass, was sie für einen Sommer hielten, Jahre gewesen waren.

 

Der Junge und seine Schwester wurden im Dorf wieder seßhaft. Der Junge arbeitete als Flößer und brachte es zu Wohlstand und Ansehen. Er konnte Flößerknechte einstellen und gab so vielen Familien Arbeit und Brot.

 

Den leuchtend weißen Stein trug er immer in seiner Tasche. Doch nur in ganz besonderen Fällen schloß sich seine Hand darum. Dann war es, als würde das Floß von alleine den richtigen Weg finden zwischen Stromschnellen und durch gefährliche Strömungen, er konnte die richtigen Entscheidungen treffen.

 

Auch die Schwester umfaßte den leuchtend weißen Stein der Kleinen Leute nur sehr selten. Die Geschwister wollten das Glück nicht herausfordern.

 

Die Schwester kümmerte sich indessen um alle Kinder des Dorfes, spielte mit ihnen und unterrichtete sie. Für die Waisenkinder baute ihr Bruder ihr ein eigenes Haus, in dem sie mit den Kindern lebte und ihnen so wieder eine Familie gab.

 

Oft ging sie mit den Kindern in den Wald, zu der aufspringenden Wurzel. Hier erzählte sie ihnen Märchen und Geschichten von den Kleinen Leuten, von Feen und Kobolden, von Riesen und verwunschenen Prinzessinnen.

Die Kinder liebten diesen Platz im Wald, denn immer entdeckten sie dort etwas Besonderes: einen knorrigen Ast, der aussah wie ein Wurzelmännchen, einen glitzernden Stein, unbekannte Schmetterlinge, eine wunderbare blaue Blume, süße Beeren, Pilze, einmal sogar eine Honigwabe. Wenn die Sonne des Mittags durch das Laub schien, malte sie manchmal ein Bild. Wenn man genau hinsah, konnte man das Bild des Königs der Kleinen Leute erkennen, darin waren sich die Kinder sicher.

 

Viele, viele Jahre später entstand hier an dieser Stelle ein Waldkindergarten, in dem Kinder spielen und lernen mit jungen Frauen, die man jetzt Erzieherinnen nennt.

 

Und auch du, wenn du ganz aufmerksam und still bist, kannst an manchen Tagen den König der Kleinen Leute sehen.

 

 

 

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