Die Weiße Frau

 

 

Es geschah vor vielen, vielen Jahren, zu den Zeiten, als weder Bücher noch Zeitungen den Menschen bedrängten. Es geschah in den Zeiten, da man sich noch erzählte, berichtete von vielem, was geschehen war, vielleicht geschehen war, vielleicht auch nur gehört, vielleicht sogar gesehen wurde. Wer weiß es zu sagen?

Jedenfalls in dieser Zeit geschah es, dass am Brunnen des kleinen Dorfes im Gebirge eine Kutsche hielt. Eine weiß gekleidete Frau steig heraus: Ihr Rock, ihr Mieder waren weiß, die weißseidene Bluse bestickt mit weißen Rosen, ihre Stiefel aus feinstem weißen Leder. Sie trug einen breitrandigen weißen Hut, weiße lange Federn wippten über ihre Schultern. Ihr Gesicht war bleich wie der Tod, doch ihre Augen leuchteten wie dunkle Diamanten. Ihr Haar war schwarz und fiel herab bis auf die Hüften. Die zufällig anwesenden Bauern und Hirten starrten gebannt auf diese Erscheinung. So etwas hatte ihr kleines Dorf noch nie erlebt.

Diese Erscheinung – die Weiße Frau, wie man sie später nannte – erschien ihnen wie aus einer fremden Welt, sie war – ja, überirdisch. Sie war kein Engel, sie konnte kein Engel sein, denn sie weckte Begehren in den Herzen der Männer, die sie sahen.

Die weiße Frau stand am Brunnen, die Kutsche fuhr weiter, da trat ein Mann auf sie zu. Niemand hatte ihn je gesehen. Er war groß und stattlich, trug Jägerkleidung, aber auf dem Hut eine rote Spielmannsfeder. Er nahm die Fremde an der Hand, aufrecht und stolz schritt er mit ihr durch die inzwischen zahlreicher gewordenen Zuschauer, aus dem nahen Wirtshaus waren einige Gäste herausgeeilt, bergauf.

Als die ersten aus ihrer Erstarrung, vielleicht auch Verzauberung erwachten und dem Paar hinterher schauten, war es nicht mehr zu sehen. Einige junge Burschen rannten den Bergpfad hoch, doch keine Spur mehr von der Weißen Frau und ihrem stolzen Begleiter.

 

Natürlich redete man im Dorf noch wochenlang von dem Ereignis. Gestandene Männer und junge Burschen dachten noch oft an die Weiße Frau, und es waren Gedanken, die sie am liebsten vor sich selbst versteckt hätten.

Man gab sich Überlegungen, Spekulationen hin, wer wohl diese Weiße Frau war, warum sie wohl in dieses abgelegnen Dorf gekommen war, wer wohl dieser Jäger war, der sie erwartete.

Letztlich gab es zwei Interpretationen. Die eine besagte, die weiße Frau sei aus einem strengen Elternhaus oder einer unglücklichen Ehe geflohen, die andere, sie habe sich dem Teufel verschrieben, um sich ewige Jugend zu bewahren. Alle aber, die über sie sprachen, wünschten im Geheimen, sie noch einmal zu sehen.

Das alte Kräuterweib warnte davor. Sie prophezeite, die Weiße Frau werde Unheil über das Dorf bringen, sollte sie wiederkommen.

Jahre vergingen, niemand hatte je wieder die Weiße Frau und den stolzen Jäger gesehen oder von ihnen gehört. Die Geschichte wurde zur Legende, letztendlich erzählten nur noch die Alten, die sehr Alten davon. Und es schien, das alte Kräuterweib hätte Unrecht gehabt und sei missgünstig gewesen, wie es oft die Art alter Frauen ist, an deren Jugend sich niemand mehr erinnert.

Da geschah es an einem Sommerabend, der Tag war ungewöhnlich heiß, die Luft schwül und drückend, Von den Bergen her zog eine schwarze Wand heran, so rasch, wie niemand es zuvor erlebt hatte.. Die Sonne verschwand, über die dunklen Wolken zogen schwefelgelbe Lichtbänder. Plötzlich senkte sich eine unheimliche Stille über das Dorf, so als hielte alles und jeder den Atem an, bevor sich ein Wetter entlud mit Hagel so groß wie Hühnereier, prasselndem Regen und einem heulenden Sturm, der Bäume entwurzelte und Dächer abdeckte. Ein Blitz zuckte fast senkrecht auf den Brunnen hernieder, der unmittelbar folgende Donner senkte Angst und Frucht in die Bewohner des Dorfes.

Doch in dem kurzen Augenblick zwischen Blitz und Donner stand am Brunnen die Weiße Frau, in ihrem weißen Rock, ihrem weißen Mieder mit der weißbestickten Bluse, dem weißen Hut mit den weißen wippenden Federn, jedoch mit zerrissenen Schuhen, als wäre sie weit über felsige Wege gelaufen, und ihre Füße bluteten. Niemand hatte sie gesehen, außer dem Großbauern, der gerade im nahen Wirtshaus saß. Ihn überkam ein seltsames Sehnen, das er sich nicht erklären konnte.

Das Unwetter ging so rasch vorüber wie es gekommen war, Unheil hinterlassend. Der Großbauer machte sich auf, zu Hause nach dem Rechten zu sehen. Er hatte die Erscheinung schon fast verdrängt, als er am Brunnen die blutigen Abdrücke von schmalen Füßen sah. Und obwohl das Wasser aus dem nahen Bach noch über den Weg und die Steine schoß, wusch es das Blut nicht ab.

Am nächsten Tag aber erinnerte auch nicht der kleinste Tropfen Blut an die Erscheinung.

Die Weiße Frau jedoch konnte der Großbauer nicht mehr aus seinen Gedanken bannen. Er hoffte im Innersten, sie wieder sehen zu können und ihr womöglich - wer weiß schon was zwischen Himmel und Erde geschehen kann - helfen zu können, denn sie schien ihm in Not zu sein.

Er verbrachte Abende um Abende im Wirtshaus in der Hoffnung, sie erschiene ihm ein zweites Mal. Nichts geschah. Es war ein Unwetter, als er sie zum ersten Male gesehen hatte, also stand er bei jedem nahenden Unwetter neben dem Brunnen, die Erscheinung erwartend. Nichts geschah.

Er verschloß sich gegen jedermann. Wenn ihn jemand ansprach, konnte es sein, daß er vor sich hinmurmelte. „Die Weiße Frau. Hab sie gesehen.“ Sonst sprach er nichts mehr. Die Freunde zogen sich zurück. Ließen ihn gewähren.

Der Großbauer vernachlässigte seinen Hof, er vernachlässigte sich selbst und seine Gesundheit. Eines Tages war er verschwunden. Niemand hatte ihn gehen sehen. Man suchte nach ihm. Vergeblich.

 

Ein Jahr nach dem Verschwinden des Großbauern erschien die weiße Frau einem Hirten, der am Brunnen seine Tiere tränken wollte und den ein urplötzlich aufkommendes Unwetter überraschte. Die Weiße Frau stand mit blutigen Füßen vor ihm im fahlen Licht eines Blitzes. Sie reckte ihm die Hände hin und schien um Hilfe zu bitten. Doch mit dem folgenden Donnerschlag war sie verschwunden.

Dem Hirten erging es nicht anders als dem Großbauern. Auch seine Gedanken drehten sich nur noch um die Weiße Frau. Er wollte sie wiedersehen. Er vernachlässigte seine Tiere, sich selbst und seine Gesundheit, Er, der ein guter Schnitzer war, saß nur noch in seiner Hütte und versuchte, die weiße Frau nachzubilden. Er magerte ab und eines Tages war auch er verschwunden. Es dauerte einige Tage, bis man es bemerkte. Als man in seine Hütte kam, fand man auf seinem Lager halbfertige Schnitzarbeiten einer Frau mit Hut.

 

So ging es mehrere Jahre, dass Männer aus dem Tal, ob jung oder alt, auf diese seltsame Weise verschwanden, nachdem ihnen die Weiße Frau während eines Unwetters erschienen war. Bei jedem Unwetter bangten daher die Mädchen und Frauen um ihre Männer.

 

Eines Sonntags kehrte ein junger Bursch mit seinem Mädchen von der Kirchweih im Nachbardorf zurück. Sie liefen durch den Wald am Bach entlang, hatten sich viel zu erzählen, scherzten und lachten, wie verliebte Leute es tun.

So bemerkten auch sie nicht das aufziehende Unwetter. Als Sturm und Regen einsetzten, rannten sie dem nahen Gasthaus zu, Unterschlupf zu finden. Kurz vor dem Brunnen zuckte ein Blitz vor ihnen hernieder und in seinem Licht stand die Weiße Frau mit blutenden Füßen. Es schien, als wolle sie den Burschen zu sich heranziehen. Da stellte sich das Mädchen vor seinen Bräutigam, streckte die Arme gegen die Erscheinung und schrie: „Du nimmst ihn mir nicht, Satansweib!“

 

Der folgende Donner schwoll an zu einem Getöse, als wollten die Berge einstürzen. Dann war alles still, friedvoll still. Die Sonne kam zwischen den Wolken hervor und beschien eine freundliche, helle Welt. Das Wetter hatte keinen Schaden hinterlassen.

Der junge Bursch schien verwirrt. Er hatte zwar den lauten Schrei seiner Braut gehört, doch ob er etwas gesehen hatte, darüber war er sich nicht sicher.

 

„Was war das? Mit wem hast du gesprochen? Mit der Weißen Frau?“ stammelte er.

 

„Nichts war“, antwortete das Mädchen, „nur der Donner rollte ungewöhnlich laut.“ Sie nahm ihn resolut an der Hand, zog ihn zum Gasthaus, wo bei einem Bier seine Verwirrung verging.

 

Von diesem Tag an erschien die Weiße Frau nicht mehr. Keine Mannsperson verschwand mehr auf geheimnisvolle Weise. Der Mut und die Liebe eines Mädchens zu seinem Burschen hatten die Macht der Weißen Frau gebrochen.

 

 

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